Unser Botaniker
Dr. Philipp Wilhelm Wirtgen

* 4. Dezember 1806 in Neuwied
7. September 1870 in Koblenz
(aus "Frick, Hans: Geschichte der Staatlichen Hildaschule, Koblenz 1935")

Dieser große rheinische Botaniker und Naturwissenschaftler, der ehemals Lehrer an unserer "Höheren ev. Stadtschule zu Koblenz" war, ist bereits der heutigen Lehrer- und Schülergeneration völlig unbekannt. Die oben angegebenen längeren Nachrufe zu seinem Tod und zu seinem 100. Geburtstag, davon einer sogar aus dem Ausland, beweisen zur Genüge, welche Bedeutung dieser Mann gehabt hat. Den vielen Nachrichten über Wirtgen, die wir auf diese Weise besitzen, können wir noch einige neue aus eigenen Untersuchungen zufügen.

Die Jugend
Geboren in Neuwied am 4. Dez.1806; evang. reformiert;
Vater Jakob Wirthgen(!) "Blechschläger" (= Klempner), ebenfalls in Neuwied geboren;
unbemittelt: Mutter: Justina Christina Moser aus Weilburg (Lahn);
Früh bemerkbare Hinneigung zur Natur. Der wißbegierige Knabe vermißt den naturkundlichen Unterricht in der ev. Elementarschule; ein Apothekergehilfe unterweist ihn in der Pflanzenkunde und leitet ihn zum Sammeln und Trocknen von Pflanzen an; Verwendung der Nächte zu naturwissenschaftlichen Studien wegen Widerstandes der Eltern. Der Vater nimmt den innerlich widerstrebenden Sohn in seine Lehre. Umstimmung der Eltern durch den einflußreichen Kirchenrat Meß, der dem 14-jährigen Knaben (1821) eine Stelle als Hilfslehrer (Präparand) an der ev. Elementarschule in Neuwied verschafft. Ausdauernder Fleiß; nach kurzem Besuch des dortigen Seminars Ablegung der Prüfung als Elementarlehrer mit "Vorzüglich" im Frühjahr 1824.

Winningen und Remagen
Erhält sofort eine Stelle an der ev. Schule zu Remagen. 80 Taler Jahresgehalt. Benutzung der freien Zeit zu gründlichen pflanzenkundlichen Ausflügen und wissenschaftlichen Studien. Dadurch Bekanntschaft mit den Bonner Professoren Goldfuß (Zoologe, Mineraloge, Geologe) und Nees von Esenbeck (Botaniker), dem sogenannten speziellen Nees zur Unterscheidung von seinem Bruder. Reger Briefwechsel mit Nees und häufige Besuche im Botanischen Garten der Iniversität Bonn. Versuche dieser Hochschullehrer, den noch nicht 20-jährigen für Bonn zu gewinnen; zunächst Beschäftigung am Botanischen Garten angeboten. Wirtgen selbst Feuer und Flamme für die Gelegenheit, die "Lücken seiner Bildung ausfüllen" zu können. Die Eltern, befangen in ihren Anschauungen, widersetzen sich dem Plan. Deshalb Ende dieses Jahres (1824) Annahme der 2. Lehrerstelle in Winningen. 160 Taler Jahresgehalt. Dort siebenjährige berufliche Tätigkeit. Eingehende Bekanntschaft mit der Pflanzenwelt des unteren Moseltales in den Mußestunden. Passende belehrende Vorträge für die Bürgerschaft Winningens im Winzerverein. Lebensfreundschaft mit dem praktischen Arzt Dr. Arnoldi. Am 20. Sept. 1831 Eheschließung mit Anna Karolina Hofbauer aus Winningen, die Wirtgen sein ganzes Leben hindurch eine verständnisvolle Stütze gewesen ist.

Koblenz
Im Aug. 1831 Berufung als 2. Lehrer an die evang. Elementarschule zu Koblenz. Wohnung im alten Pfarrhaus (Bild 3), wo ihn Zeit seines Lebens gelehrte Naturforscher aufsuchen , die sich von dem genauen Kenner der Gegend die Schönheiten und naturkundlichen Merkwürdigkeiten zeigen lassen. 1833 erste bedeutungsvolle Veröffentlichung (siehe das folgende Schriftenverzeichnis). Bisher alles Wissen des 28-jährigen durch eigene Kraft erworben. Im Nov. d.J. (1833) Angebot einer Unterstützung zur gründlichen Hochschulausbildung in Botanik und Mineralogie durch den preußischen Kultusminister von Altenstein. Antrag Wirtgens bei ev. Kirchenvorstand, ihn auf ein Jahr zu beurlauben und seine Stelle offen zu halten. Vorstand wünscht ihm alles Gute für die Zukunft, muß ihn aber entlassen statt beurlauben, wenn er das Hochschulstudium aufnimmt. Diese Entscheidung, so hart sie klingt, eigentlich selbstverständlich, da bei den früher (in Abschnitt I) geschilderten Schulverhältnissen die Einstellung eines jungen Vertreters schwere Schäden für Schule und Gemeinde mit sich gebracht hätte. Der Urlaub sollte letzten Endes doch nur dazu dienen, Wirtgen in absehbarer Zeit der Schule auf immer zu entführen. "Für einen Schullehrer, selbst für einen an einer höheren Schule wirkenden", waren seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse nach dem Urteil des Vorstandes "gewiß mehr als ausreichend". Wirtgen wagt mit Rücksicht auf die Familie den Schritt nicht, der seine zukünftigen Lebensverhältnisse ganz zweifellos verbessert hätte. Darauf Anweisung des Ministers, der nichts anderes für ihn tun kann, an die Regierung, ihm bald eine seinen Kenntnissen entsprechende Stellung zu verschaffen. Im Herbst 1835 übernimmt der Vorstand der ev. Gemeinde Wirtgen mit Genehmigung der Regierung als den am besten befähigten ("qualifizierten"; siehe Abschnitt Urkunden) Lehrer der Elementarschule an die neue "Höhere evangelische Stadtschule". Gehalt 300 Taler (1866 345 Taler) und freie Wohnung. Hier noch 35-jährige Tätigkeit bis zu seinem plötzlichen Tod.

Wissenschaftliche Tätigkeit
Neben seinem Unterricht und den vielen Privatstunden, die seiner schließlich bis auf zehn Köpfe angewachsenen Familie zur Verbesserung des Lebensstandes dienen mußten, findet der rastlos tätige Mann –vor allem durch Opferung seiner Ferien- noch Zeit, die botanischen Verhältnisse des Rheinlandes und die erdgeschichtlichen, versteinerungskundlichen und mineralienkundlichen Zusammenhänge in der näheren und weiteren Umgebung zu erforschen, auch der Geschichte und den Sagen mehrerer Gebiete nachzugehen und eine Menge seiner Untersuchungen in zahlreichen Aufsätzen und Schriften, darunter einigen recht umfangreichen, zu veröffentlichen (siehe Schriften).Erforschung von schwerer für ihn erreichbaren Gebieten wie der Hocheifel, dem Niederrhein und der nördlichen Pfalz nur in den Ferien durchgeführt. Er wird hinsichtlich der "Kenntnis der naturhistorischen Verhältnisse des Rheinlandes bald als eine der ersten Autoritäten" angesehen. Seine vielen Arbeiten über die Flora der preußischen Rheinlande sollten ihren Abschluß finden in einer umfassenden Flora der preußischen Rheinlande, einem vierhändigen Werk, das auch seine Sonderarbeiten über einzelne Pflanzenfamilien (Rosa=Rose, Rubus=Brombeere, Verbascum=Wollkraut, Mentha=Minze) aufnehmen sollte. 1. Band davon erscheint 1869; 2. Band beim Tod Wirtgens (1870) im Druck begriffen. Unter den Büchern allgemeineren Inhalts: Das Ahrtal; das Nette- und Brohltal und Laach; Neuwied (Wirtgens Vaterstadt) und seine Umgebung. Sehr bekannt -bis ins Ausland- machen ihn auch seine bahnbrechenden und viel gekauften Sammlungen getrockneter Pflanzen (Herbarien), beispielsweise: die ökonomisch-technischen Pflanzen Deutschlands, die Forst- und Holzgewächse, die Arzneipflanzen, die wichtigsten Giftpflanzen, die selteneren und weniger bekannten Pflanzen der Rheinprovinz –diese Sammlung in Verbindung mit Bach- und (als wichtigste Sammlung) die rheinischen Minzen und Brombeeren.Zahlreiche, der Naturforschung dienende Vereinsgründungen durch Wirtgen: 1834: im Einverständnis mit dem preußischen Kultusminister – des Botanischen Vereins am Mittel- und Niederrhein, der sich 1841 zu dem allgemeinen "Naturhistorischen Verein der preußischen Rheinlande und Westfalens"unter der Leitung des befreundeten Oberberghauptmanns von Dechen erweitert; Wirtgen hat zeitlebens die Direktion der botanischen Abteilung (Sektion). Frühjahr 1851: des Naturwissenschaftlichen Vereins zu Koblenz;Wirtgen führt zeitlebens den Vorsitz; der Verein stand auch nach seinem Tod lange in Blüte. 1852 auf Antrag Wirtgens: Zusammenschluß der rheinischen Botaniker, die in Wiesbaden auf der Generalversammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte (Botanische Sektion) anwesend sind, zu einer Vereinigung, die sich unter Mitleitung Wirtgens die Aufstellung und Untersuchung von "Floren nach Flußgebieten"des Rheinlandes zur Aufgabe stellt. Viele naturwissenschaftliche , landwirtschaftliche und Winzervereine an Rhein und Mosel gehen auf Wirtgen zurück.Zahlreiche populär-wissenschaftliche Vorträge (auf den Generalversammlungen des Naturhistorischen Vereins für Rheinland und Westfalen, auf denen des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen in Bonn usw.). Veranstaltungen von verschiedenen Blumenausstellungen (auch in Koblenz) zur Förderung der Blumenpflege.


Labkraut - Gallium wirtgenii

Anerkennungen
Bei solcher unermüdlicher Tätigkeit bleibt die Anerkennung nicht aus: Ernennung zum Mitglied vieler gelehrten Gesellschaften: der 1652 gegründeten kaiserlich (deutschen) Leopold. Karolin. Akademie der Naturforscher (seit 1818 in Halle); sie bezeichnet ihn als "Florae Rhenanae cultor eximius", d.h. als den hervorragenden Pfleger der rheinischen Pflanzenwelt; der Botanischen Gesellschaft in Regensburg; der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur; der Sociètè royale de Botanique de Belgique.Verleihung der Ehrendoktorwürde am 18. Januar 1853 durch die philosophische Fakultät der Universität Bonn auf Antrag der Professoren Treviranus (Botaniker) und Nöggerath (Mineraloge). Gewährung einer Freikarte auf allen Strecken der Rheinischen Eisenbahn. Bereitstellung der Mittel zu zwei Reisen in die Alpen und Norditalien (1844 u. 1851). Außerdem wird ihm je eine Reise in den Schwarzwald und zur internationalen Gartenbauausstellung in Hamburg durch die Prinzessin Augusta von Preußen (die spätere deutsche Kaiserin) vermittelt; ihr hatte er während ihres Koblenzer Aufenthalts verschiedene pflanzenkundliche Vorträge gehalten. "Zu seinen vielen Freunden zählte er die ausgezeichnetsten Gelehrten seiner Zeit, einen Alexander von Humboldt, Leopold von Buch (Geologe und Paläontologe.D.B.), de Koninck, Alexander Braun (Botaniker) u.a.". (Bekanntwerden mit Humboldt auf dem Mendelssohnschen Landsitz in Horchheim).

Rückblick und Ende
"Mit treuer Liebe hing Wirtgen an seiner Familie". Als Bürger war er ein Preuße mit jeder Fiber seines Herzens." Zwei seiner Söhne sieht er 1866 "mit frohem Mut" in den Krieg mit Österreich ziehen. Sie befinden sich auch wieder 1870 in Frankreich im Felde, als ein Gehirnschlag am 7. Sept. seinem Leben ein Ende setzt. Sein Grab auf dem Friedhof von Koblenz (etwa 40 m westlich der Friedhofshalle; vom Hauptweg gut sichtbar, hat auch der hiesige naturwissenschaftliche Verein mit einem Gedenkstein versehen lassen. Aus den eingangs genannten Nachrufen zu seinem Tod: Nach Arnoldi war Wirtgen "einer der ehrenwertesten rheinischen Naturforscher" Dronke: "Machten ihn seine großen botanischen Kenntnisse schon zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten in den wissenschaftlichen Kreisen der preußischen Rheinprovinz, so sind seine Erfolge noch weit mehr anzuerkennen, wenn man den durch so viele Hindernisse gehemmten Gang seiner Bildung beachtet". Crèpin: Der Name von Philipp Wirtgen wird mit der Flora des Rheins verbunden bleiben". "Wenn Wirtgen auch nicht unter den Spitzen (simmitès D.B.) der Wissenschaft glänzt, so ist nichtsdestoweniger seine Stellung inmitten der eifrigen (laborieux) und bescheidenen Arbeiter bedeutungsvoll, die mit Geschick und Scharfblick die beschreibende Pflanzenkunde gepflegt haben".

---- © by lothar Wirtgen 2014 -----